Rollstuhl-Rugby: Ein Sport zwischen Autoscooter und Schach

Herr Friedel, wie reagieren die Leute, wenn Sie sagen: Ich spiele Rollstuhl-Rugby?

Marcus Friedel: Meistens gucken die erst einmal etwas komisch. Rugby an sich haben viele schon mal gehört, aber wie das im Rollstuhl aussieht, können sich die wenigsten vorstellen. Es ist auch gar nicht so einfach zu erklären. In den vergangenen Jahren hat sich aber eine recht griffige Erklärung etabliert: Unser Sport ist wie eine Mischung aus Autoscooter und Schach.

Wie bitte? Warum denn Autoscooter und Schach?

Autoscooter, weil wir uns natürlich auch mal gegenseitig in die Karre fahren. Das scheppert dann ganz ordentlich. Und Schach, weil es ein sehr taktischer Sport ist. Es gibt sehr viele verschiedene Spielzüge, die wir als Mannschaft immer wieder trainieren müssen, bis sie richtig sitzen. Die Kunst ist dann, mehrere dieser Spielzüge während einer Partie zu verknüpfen. Denn es ist ja nicht Ziel des Spiels, sich einfach nur in die Karre zu fahren. Es geht darum, die gegnerischen Spieler irgendwie festzusetzen, damit der ballführende Spieler der eigenen Mannschaft genug Zeit und Platz hat, nach vorne zu kommen und die Tore zu machen.

Hat jede Mannschaft ihre eigenen taktischen Kniffe?

Viele Taktiken sind ab einem gewissen Niveau bei den Mannschaften ähnlich, aber je nachdem, welche Spieler auf dem Feld sind, kann man da ein paar Varianten einbauen. Das hängt auch mit der Punktzahl zusammen, die man in dem Moment auf dem Feld hat.

Diese Punktzahl sind nicht die erzielten oder kassierten Tore, sondern Zahlen, die auf Schildern hinten an den Rollstühlen hängen, richtig?

Genau. Ich habe zum Beispiel eine 0,5, das ist die niedrigste Einstufung, weil ich in der Bewegung deutlich eingeschränkter bin als ein Mitspieler, der wendiger, schneller und agiler ist – weil sein Körper einfach noch besser funktioniert. So ein Spieler hat dann zum Beispiel 2,0 Punkte. Von der Beweglichkeit hängt auch die Rolle ab, die ein Spieler auf dem Feld hat.

Kampf um den Ball: Marcus Friedel im Training mit seiner Teamkollegin Mascha Mosel.

Foto:
Björn Hake

Wer legt fest, welche Punktzahl der einzelne Spieler bekommt?

Da gibt es richtige Klassifizierer, die speziell dafür ausgebildet wurden. Meistens sind das Therapeuten. Da wird man richtig angeguckt, wie man die Arme und den Kopf bewegen kann oder welche Beweglichkeit es im Oberkörper gibt. Bei manchen Spielern, deren Gesundheitszustand sich im Laufe der Zeit verbessert oder verschlechtert hat, können sich diese Einstufungen auch verändern.

Warum sind diese Punkte so wichtig?

Damit man zwischen den Mannschaften ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis hat. Bei uns darf eine Mannschaft auf dem Feld nicht mehr als insgesamt sieben dieser Punkte haben. Ein Team auf dem Feld besteht aus vier Spielern, man kann also nicht mit lauter sehr hoch eingestuften Akteuren spielen.

Im Gegensatz zum Rollstuhl-Basketball dürfen im Rugby keine Fußgänger mitspielen, die sich in einen Rollstuhl setzen. Warum sind die Regeln hier strenger?

Weil der Sport für uns gemacht ist, für Spielerinnen und Spieler, die an mindestens drei Gliedmaßen eingeschränkt sind. Ich sage immer: Wer sich noch besser bewegen kann, der kann ja Basketball spielen.

Rollstuhl-Rugby gilt als Sport, bei dem man sich richtig auspowern kann. Was tut danach am meisten weh?

Bei mir sind es die Schultern, weil die immer in Bewegung sind. Auch der Nacken. Mal muss man den Gegner schubsen, dann muss man einen Ball behaupten. Und es gibt viele schnelle Richtungs- und Tempowechsel. Das spürt man in den Schultern und Armen, weil man ja immer die Räder anschieben muss. Ein Spiel geht über vier Viertel, jedes dauert sechs Minuten. Das klingt nicht so viel, aber das ist effektive Spielzeit: Wenn der Ball im Aus ist, bleibt die Uhr stehen. Es geht ständig intensiv hin und her. Wenn man gut trainiert ist und die nötige Kondition hat, kann man ein ganzes Spiel durchhalten. Aber das ist schon anstrengend, es macht Sinn, dass man mehrere Auswechselspieler hat. Bei uns, bei den Achimer Heroes, haben wir im Moment zwölf Spielerinnen und Spieler. Es gibt gemischte Mannschaften, weil es in der jeweiligen Region natürlich nicht so viele Leute gibt, die überhaupt zum Mitspielen in Frage kommen. Wenn mal ein Fußgänger im Training mitmacht, tun dem witzigerweise meistens die Beine weh, obwohl er ja sitzt.

Warum denn die Beine?

Das haben wir uns auch schon oft gefragt, weil man die Beine ja eigentlich gar nicht braucht. Aber man sitzt sehr tief im Rollstuhl, und es ist als Fußgänger offenbar nicht möglich, die Beine komplett zu ignorieren bei den ganzen heftigen Bewegungen. Bei denen verkrampfen die Beine dann. Ich brauche mir darüber keinen Kopf zu machen, denn ich kann meine Beinmuskulatur nicht mehr ansteuern.

Wie sind Sie in den Rollstuhl gekommen, durch einen Unfall?

Ja. Ich hatte 2007 den klassischen Sommerunfall, ein Kopfsprung in zu flaches Wasser. Wir waren bei Freunden auf einem 30. Geburtstag, es war schön warm und die hatten einen Pool im Garten. Wie das dann so ist: Man feiert, trinkt etwas und wird irgendwann lustiger. Da wollten wir im Pool plantschen und ich bin mit dem Oberkörper voran ins Wasser. Ich habe direkt gemerkt, dass ich mit dem Kopf aufgekommen bin. Gar nicht so doll, es hat auch nichts geknackt, aber ich hatte sofort motorische Ausfälle. Meine Freundin stand nur einen Meter daneben, die hat alles miterlebt. Sie war so geistesgegenwärtig, mich so umzudrehen, dass wenigstens mein Kopf nicht mehr unter Wasser war und ich wieder atmen konnte.

Wann war klar, wie gravierend es ist?

Anfangs noch nicht. Ich habe zwar gemerkt, dass ich die Arme und Beine nicht bewegen kann, aber durch die Hilfe des Rettungsdienstes hatte ich auch schnell viele Medikamente intus, da habe ich nicht mehr alles mitbekommen. Zum Glück hatten meine Bekannten mich nicht viel bewegt, wir haben anfangs sogar noch herumgealbert. Man rechnet ja nicht damit, dass man jetzt querschnittsgelähmt ist. Aber so lautete später in der Klinik in Oldenburg die Diagnose. Ich hatte mir den fünften und sechsten Halswirbel gebrochen, das wurde mit Schrauben stabilisiert. Die Brüche waren nicht das Problem, aber das Rückenmark wurde so stark gequetscht, dass ich die Muskeln in den unteren Extremitäten nicht mehr steuern kann. Mein Vorteil ist, dass ich den ganzen Körper noch spüre, weil die Nervenbahnen nicht durchtrennt wurden. Das ist bei Querschnittslähmungen nicht üblich.

Wann reifte der Entschluss, trotz der Verletzung wieder Sport zu machen? In der Reha?

Ja, sogar relativ schnell. Ich kam in eine Spezialklinik in der Nähe von Kassel, für fast neun Monate. Dort habe ich vom Rollstuhl-Rugby gehört, und das hat mich sofort fasziniert. Es hat aber gedauert, bis es für mich im Verein hier in Achim losging. Man muss ja erstmal sein Leben neu auf die Kette kriegen, auch mit der Arbeit, dem Autofahren und dem zu Hause. Außerdem gab es hier noch gar keine Mannschaft. Ein paar Spieler gab es zwar, aber die sind bis nach Hamburg gefahren, um dort zu spielen. Als dann 2016 hier eine Mannschaft gegründet wurde, war ich sofort dabei.

So sieht der “Bumper” aus, mit dem sich die Rollstühle rammen können.

Foto:
Jean-Julien Beer

Wie hat sich die Pandemie auf den Sport ausgewirkt?

Es lief gerade richtig gut für uns, wir standen in der Regionalliga auf dem zweiten Platz. Dann kam Corona, und wir durften nicht mehr spielen oder trainieren. Fast zwei Jahre stand alles still. Da hat mir der Sport schon gefehlt, das kann man zu Hause nicht kompensieren. Jetzt dürfen wir wieder trainieren und vielleicht bald auch wieder spielen.

Es scheppert sehr heftig, wenn die Rollstühle zusammenstoßen. Ist das gefährlich?

Bei uns ist nur einmal was passiert, weil einer vornüber aufs Gesicht gefallen ist. Da gab’s eine blutige Lippe. Weil uns die Stabilität im Rumpf fehlt, sind wir in den Sportrollstühlen angegurtet. Da kann nicht viel passieren, auch wenn man mal umkippt. Trotzdem kommt man mit den Armen weit genug runter, um mit dem Ball dribbeln zu können oder den Ball vom Boden aufzunehmen.

Der Ball sieht auf den ersten Blick aus wie ein Volleyball.

Der Ball ist sehr ähnlich wie ein Volleyball, ist aber etwas rauer und gepolsterter. Manchmal wird zur besseren Kontrolle auch mit Harz an den Handschuhen gespielt, aber in vielen Hallen ist das nicht mehr erlaubt.

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Der Spielball wirkt auf den ersten Blick wie ein Volleyball.

Foto:
Jean-Julien Beer

Wozu braucht man die Handschuhe?

Weil einem sonst die Finger bluten würden, wenn man immer zum Anschieben oder für Richtungswechsel in die Reifen greifen muss. Da lernt man die Handschuhe sehr schnell zu schätzen.

Die Spieltage führen bis nach Erfurt oder Leipzig. Die Sportrollstühle und die Ausrüstung müssen immer mitgenommen werden?

Ja, und das ist immer eine logistische Herausforderung. Man braucht ja beide Rollstühle, den normalen und den für den Sport, man braucht auch ein geeignetes Hotel für die Mannschaft. In der Regel haben wir auswärts einen Doppelspieltag, damit wir nicht nur für ein Spiel so weit fahren. Es ist aber immer ein tolles Erlebnis, mit der Mannschaft so ein Wochenende zu verbringen und sich mit den Gegnern zu messen. Ich habe es nie bereut, mich für Rugby entschieden zu haben.

Das Gespräch führte Jean-Julien Beer.

Zur Person

Marcus Friedel (47)

fuhr früher gerne Mountainbike und ist nach einem Unfall seit knapp 15 Jahren querschnittsgelähmt. Seit 2016 spielt er im Rollstuhl-Rugby-Team der Achimer Heroes und engagiert sich auch als deren Spartenleiter im TSV Achim. Er ist Angestellter bei einem Pflegedienst.

Zur Sache

Rollstühle kosten bis zu 10.000 Euro

Der Begriff Regionalliga ist etwas irreführend, denn für die Mannschaft der Achimer Heroes ist die Regionalliga Nord-Ost mit Spielen weit außerhalb der Region verbunden, es geht auch mal bis nach Leipzig oder Berlin. Um die Kosten für diese weiten Reisen zu decken, ist die Mannschaft auf Sponsoren und Spenden angewiesen. Das gilt auch für die Beschaffung der Sportrollstühle, die es in zwei Ausführungen gibt: für offensive und für defensive Spieler. Bei letzteren gibt es auf der Vorderseite einen angeschraubten „Bumper“, mit dem man den Gegner rammen kann. Alle Sportrollstühle werden individuell auf die Maße der Spieler abgestimmt und extra angefertigt.

Nur in wenigen Fällen übernimmt die Versicherung die Kosten für einen Sportrollstuhl, viele Spieler müssen ihr Sportgerät selbst bezahlen und sind auch hier für jede Unterstützung durch Sponsoren und Förderer dankbar – denn so ein Sportrollstuhl kostet zwischen 7000 und 10.000 Euro. Weitere Informationen zu den Achimer Heroes und Kontaktadressen für interessierte Sponsoren, Mitspieler und Unterstützer gibt es auf der Homepage des TSV Achim (www.tsv-achim.de). In Deutschland gibt es rund 200 Spieler, die Rollstuhl-Rugby in einem Verein spielen.

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