In den Neunzigerjahren hatte ich gedacht, Neonazis seien gegen den Rechtsstaat und gegen die bundesdeutsche Demokratie und ihre Gesetze, mit einem Wort: gegen unseren Staat. Dann erhielt ich eine Lektion. Das sei so nicht richtig: Neonazis hielten korrekte, staatliche Ordnung für sehr wichtig, weshalb sie sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Straßen halten würden. Später war ich bei Freunden auf dem Land eingeladen. Einer warnte mich telefonisch, bevor ich mich ins Auto setzte: Aufpassen möge ich, es gebe einige Blitzanlagen auf dem Weg. Meine Antwort: Er müsse sich keine Sorgen machen, ich würde fahren wie ein Neonazi.
Davon abgesehen, dass der Mann verblüfft war, das zu hören: Was hatte ich damit gesagt? Hatte ich mich mit Neonazis gemein gemacht? Nein. Denn: Es ist möglich, sich an die Regeln der Straßenverkehrsordnung zu halten, ohne dass man ein Neonazi ist.
Ebenso sollte es möglich sein, die Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu kritisieren, ohne rechtsradikal oder ein entgeisterter Idiot zu sein. Leider haben sehr viele in unserem Land das nicht begriffen. Den Schauspielern, die sich an der satirischen und künstlerisch insgesamt großartigen Initiative #allesdichtmachen beteiligten, wird vorgehalten, sich mit Rechtsradikalen und »Querdenkern« gemein zu machen.
Franziska Augstein
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Hat in Berlin, Bielefeld und Sussex Geschichte, Philosophie und Politologie studiert und wurde am University College London mit einer Arbeit über frühe Rassetheorien promoviert. Als Journalistin war sie beim »Zeit«-Magazin, bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und der »Süddeutschen Zeitung« tätig. Für einen Essay über Martin Walser ist sie im Jahr 2000 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet worden. Ausgewählte Artikel und Reden seit 1999 bis heute finden Sie auf ihrer Website www.augstein.org.
Das Reden über Covid-19 erinnert an die ergebnislosen öffentlichen Debatten während des Kalten Kriegs. Auch damals konnten die zwei Seiten kaum zueinander kommen. Auf der einen Seite standen Westdeutsche, die – auch im Namen des Weltfriedens – für diplomatischen Umgang mit der Sowjetunion plädierten. Auf der anderen Seite waren jene, die erstere für Naivlinge hielten, wenn nicht gar für vom »Osten« entlohnt dafür, die Demokratie zu unterhöhlen.
Der Journalist Günter Gaus wechselte von der Chefredaktion des SPIEGEL in die Diplomatie. 1974 wurde er Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Gaus war ein konservativer Sozialdemokrat, wahrlich kein Kommunismusfreund. Ihn, den Diplomaten, störte die eingefahrene westdeutsche Attitüde: Wann immer jemand über die DDR sprach, musste die Person das einleiten mit der Konfession, die DDR sei ein übler Unrechtsstaat. Gaus sagte dazu: Erst nachdem der Gesslerhut gegrüßt sei, dürfe man zum Punkt kommen.
Mit Covid-19 verhält es sich heute nicht anders. Bekannt ist mittlerweile, welch schlimme Folgen die seit mehr als einem Jahr in Deutschland herrschenden Anti-Corona-Maßnahmen für die Gesellschaft haben, in psychischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Freilich, wer davon redet, muss zuvor eingestehen, dass die Pandemie uns alle dominiere. Anderenfalls gibt es einen Shitstorm auf Facebook und Twitter, die mittlerweile offenbar oberste Instanzen für die Meinungsbildung von etlichen Politikern und einigen Chefs öffentlich-rechtlicher Sender geworden sind.
»Das Virus verzeiht nichts«, hat die Kanzlerin unlängst erklärt. Damit hat sie Covid-19 zu einem quasi ansprechbaren Chef von uns allen gemacht.
Die Bundesregierung, prominente Gesundheitspolitiker und das Robert Koch-Institut, eine selbstständige Bundesbehörde, halten die Bürger alert. Auch die Sprache wird benutzt; es wird anthropomorphisiert, dass es in den Ohren kleben bleibt: »Das Virus verzeiht nichts«, hat die Kanzlerin unlängst der Nation im Fernsehen erklärt. Damit hat sie Covid-19 zu einem quasi ansprechbaren Chef von uns allen gemacht. Ist es ein Wunder, wenn Menschen meinen, dass sie mit dem Virus – das denn doch eher wenig denkt – nicht verhandeln können und deshalb auch nicht auf seine Verzeihung aus sind?
Gute Diplomaten wie Günter Gaus und in Vollendung der ebenfalls längst verstorbene Hans-Dietrich Genscher verstehen es, mit vielen ausgesuchten Worten wenig zu sagen. Die Kanzlerin sagt mit wenigen, banalen Wörtern mitunter zu viel. In aller Regel wählt Merkel nichtssagende Formulierungen; bei den Wählern will sie nicht anecken.
Diese rhetorische Selbstregulierung führte 2015 zu dem Satz »Wir schaffen das«, der in anderen Ländern leider missverstanden wurde, nämlich als Einladung an alle, nach Deutschland zu kommen. Aus Scheu vor einer etwas genaueren Erklärung, vielleicht aus genereller Scheu vor Reden für ein großes Publikum, behalf die Kanzlerin sich mit einem billigen Satz, der die Flüchtlinge, die sich daraufhin gen Deutschland aufmachten, teuer zu stehen kam.
Ähnlich dürftig ist Merkels Satz »Das Virus verzeiht nichts«. Auf diesem selben Niveau, kurz und bündig und ohne jede Differenziertheit, kann man dazu sagen: Wenn Merkel meint, das Virus regiere in der Bundesrepublik, dann brauchen wir Bürger sie nicht mehr. Und das eigentlich seit gestern.