Anne Will – Experte: Ich würde jede Nacht dreimal das Bett wechseln | Politik

Der Putsch fiel aus, doch der Zar steht ohne Kleider da. Jetzt kleben die Medien Info-Schnipsel zusammen: Was war da wirklich los, und wie geht es weiter? Auch Anne Will ist sich nicht schlüssig: „Machtkampf in Russland – Verliert Putin die Kontrolle?

Die Gäste

Lars Klingbeil (45, SPD). Der Parteichef steuerte nach Schröder, Merkel & Co. als einer der ersten auf Frontalkurs gegen den Kriegstreiber im Kreml um.

Roderich Kiesewetter (59, CDU). Der Außenpolitiker und Oberst a.D. stellt auf Twitter ein Ziel über alles andere: „Hauptsache wir ermöglichen der Ukraine den Sieg!“

Prof. Carlo Masala (55). Der Militärexperte vermutete zuletzt, dass der aufständische Söldnerführer Prigoschin „sich mehr Unterstützung aus dem russischen Sicherheitsapparat erhofft“ habe.

Sabine Adler (60). Die Journalistin (Deutschlandradio) warnte schon vor drei Wochen bei Maybrit Illner: „In Russland droht ein Bürgerkrieg der Eliten!“

Ina Ruck (61). Die ARD-Korrespondentin in Moskau erhöht die Spannung gern durch ruckartiges Augenaufreißen.

Vassili Golod (30). Der Ukraine-Korrespondent der ARD twittert: „Prigoschin musste die Moskauer Stadtgrenze gar nicht erreichen, um eine Schneise der Zerstörung in Putins Autokratie zu schlagen. Er hat die Schwäche des Kreml und die Angst des Mannes an der Spitze entblößt.“

Eishockey-Fan Putin wirkt plötzlich wie ein alternder Puckjäger, dem die Strafbank droht. Das Zoff-O-Meter erwartet krachende Checks, gern auch gegen die Bande!

Die Gäste bei Anne Will (Mitte): (v.l.) Sabine Adler, Carlo Masala, Lars Klingbeil und Roderich Kiesewetter

Foto: ARD

Exotischste Statusmeldung

ARD-Ruck muss als erste ran: „Da reibt sich ja wirklich die Augen“, ächzt die Korrespondentin in Moskau. „Wo Prigoschin ist, wissen wir nicht. Er ist abgetaucht. Sein Social Media Team schreibt mit Zwinker-Smiley Sachen wie ‚Er ist gerade in einer Zone, die telefonisch nicht erreichbar ist‘. Sehr lustig!“.

Ruck weiter: „Auch Schoigu, der Verteidigungsminister, ist von der Bildfläche verschwunden. Also wir stochern im Nebel. Es ist ganz interessant.“ Hm. In den „Tagesthemen“ wird Ruck eine Stunde später spekulieren, dass der Söldnerführer „jetzt vielleicht in Afrika ist“, um „möglichst weit weg von Putin zu sein“. Heia Safari!

Überraschendste Begründung

„Es ist absolut deutlich geworden, dass Putin die Kontrolle verloren hat“, urteilt die Deutschlandradio-Journalistin. „Ich glaube, es ist der Anfang vom Ende. Es hat gezeigt, dass sich jemand aufschwingen und zumindest versuchen kann, Putin etwas zu diktieren.“

„Meine Erklärung ist“, so Adler weiter, „dass Prigoschin eine unglaubliche Rückendeckung haben muss. Er wollte stärker als der Präsident sein, Putin seine Bedingungen diktieren. Das kann man nur, wenn man Leute im Rücken hat, und das sind in Russland die Geheimdienste.“

Präziseste Fehleranalyse

„Wir haben es mit unglaublichen Machtkämpfen hinter den Kulissen zu tun, und das schon eine ganze Weile“, stellt die Journalistin dazu fest. „Am 24. Februar 2022 (Kriegsbeginn, d.Red.) hieß es: Putin hat die Lage vollkommen falsch eingeschätzt. Dem Geheimdienstler Putin ist das Misstrauen gegenüber den eigenen Leuten abhandengekommen!“

Folge, so Adler: „Er ist hinter die Fichte geführt worden. Neben ihm ist eine Gruppe stark geworden und hat das ausgenutzt. Und damit ist Putin wirklich nachhaltig geschwächt.“

Journalistin Sabine Adler

Foto: ARD

Verheerendste Bilanz

„Der Mann, der sich gern mit nacktem Oberkörper zeigt, auf Bären, Pferden und allem möglichen reitet, auf U-Booten und Panzern fährt, wird von einer Privatarmee in die Ecke gedrängt und muss mit einem nicht staatlichen Akteur verhandeln“, staunt Prof. Masala. „Er ist nicht in der Lage, diesen Vormarsch zu stoppen. Das ist ein Schlag ins Gesicht!“

Folge, so der Militärexperte: „Der ganze Nimbus von Putin als diesem maskulinen Typen, der über dieses Land herrscht, ist dahin. Wir sehen, dass es Risse im Fundament seines Machtsystems gibt.“

Ehrlichstes Eingeständnis

„Ich sehe ihn auch massiv geschwächt“, assistiert Klingbeil und hebt bekräftigend die Hände an die Brust. „Ich gebe zu: Ich wünsche mir auch, dass er geschwächt ist.“ Allerdings: „Insofern interpretiert man Dinge, die jetzt sehr aktuell sind, vielleicht auch ein bisschen mit einem politischen Wunsch.“

Das Bild der korrupten Eliten, das Prigoschin jetzt über seinen „Telegram“-Kanal verbreite, könne in der russischen Gesellschaft vieles auslösen, meint der SPD-Chef. Und: „Für Putin ist es eine massive Demütigung, wenn 200 Kilometer vor Moskau auf einmal eine Privatarmee aufläuft!“

Hoffnungsvollste Prognose

„Ich glaube, dass jetzt in der Moskauer Elite durchaus die Frage anfängt: Kann Putin uns eigentlich beschützen, wenn es hier ernst wird?“ erläutert Klingbeil weiter. Für den SPD-Chef sind das alles „hoffentlich Punkte, die dazu führen, dass das System Putin destabilisiert wird und er an Macht verliert.“

„Wie schnell das geht, wie deutlich das sein wird und wann das der Fall sein wird, weiß ich nicht“, fügt Klingbeil hinzu. „Aber ich glaube schon, dass das gestern ein Stück weit ein Wendepunkt in der Geschichte der Politik in Russland und dann natürlich auch im Ukrainekrieg ist.“

SPD-Chef Lars Klingbeil

SPD-Chef Lars Klingbeil

Foto: ARD

Erhellendstes Schaglicht

„Die Gruppe Wagner ist der militärische Arm des Militärnachrichtenwesens, des GRU“, berichtet Kiesewetter. „Damit ist sie Teil der Streitkräfte. Das sind Nachrichtendienstler. Spezialkräfte.“

„Zweitens“, so der CDU-Politiker weiter: „hat dieses Wochenende gezeigt: Putin handelt unter Druck. Putin hat eine Schwäche erlebt, und plötzlich verhandelt er.“

Energischster Appell

„Das ist für uns ein Signal, dass wir in der Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen dürfen und jetzt die Schwäche Putins nutzen müssen, damit sein Gravitationszentrum, die Krim, von der Ukraine befreit wird“, folgert Kiesewetter.

„Nicht unbedingt blutig“, präzisiert der Oberst a.D. seine Forderung, „aber indem mit weitreichenden Waffen, mit Raketen, aber auch mit Kampfflugzeugen die Versorgungslinien der Russen auf der Krim zerstört werden, sodass die russischen Truppen dort aufgeben müssen.“

Wichtigste Hintergrund-Info

Über die Kenntnisse der Geheimdienste vom abgebrochenen Prigoschin-Putsch berichtet Kiesewetter: „Der BND war genauso gut informiert wie die CIA.“ Mit Prigoschins Schmähreden habe sich schon länger etwas abgezeichnet, das auch im Bundestag „immer und immer wieder Thema war“. Uff!

Aber, so Kiesewetter: „Der Zerfall einer Diktatur ist nicht vorhersagbar. Dass Prigoschin sich so schnell entscheidet, wusste man am Freitag nicht. Aber man wusste schon vor drei Wochen, dass sich da etwas zusammenbraut, nämlich eine innermilitärische Auseinandersetzung.“

CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter

CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter

Foto: ARD

Realistischste Erklärung

Eine Auseinandersetzung „zwischen den Spezialkräften des Nachrichtendienstes, das ist die Gruppe Wagner, und den Streitkräften“, erläutert der CDU-Politiker. „Und zwar Uneinigkeit über die knappen Ressourcen, zu wenig Munition, zu wenig Kampfmittel, zu wenig Soldaten in der Zuteilung, so dass Prigoschin auf Strafgefangene zurückgreifen musste.“

Ergebnis, so der Oberst a.D.: „Von seinen 25000 sind 10000 sehr stark ausgerüstet, aber 7000 sind Straftäter, also Entlassene aus dem Gefängnis.“ Kiesewetters Schlussfolgerung: „Die Nachrichtendienste waren über den Samstag sehr überrascht, aber nicht über die Entwicklung selbst.“

Gefährlichste Bedrohung

Über wahrscheinliche Rachegelüste Putins sagt Prof. Masala: „Wenn ich Prigoschin wäre, würde ich für die nächsten Jahre jeden Nacht dreimal das Bett wechseln!“

Denn, so der Experte: „Putin hat einen langen Atem. Das haben wir ja bei anderen Regimegegnern auch gesehen, die erst nach Jahren vergiftet und ermordet worden sind.“ Ächz!

Dramatischstes Lagebild

Die Journalistin hebt den Finger: „Die Oligarchen sind richtig schwer sauer“, meldet sie. „Denn die sind im Verlauf dieses Krieges so sehr verarmt, die werden nicht zugucken, dass ihre Vermögen womöglich für den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden, also perdu sind!“

Wenn das alles „ins Rutschen gerät“, so Adler weiter, „dann ist in Russland die Hölle los. Jeder gegen jeden.

Putin hat große Vermögen, die er verwalten oder verstecken lässt. Wann das nicht mehr gelingt, weckt das Begehrlichkeiten, und dann ist Gewalt an der Tagesordnung. Also die Zukunft Russlands ist eine höchst unsichere!“

Lautester Alarmruf

Das dringendste Problem zurzeit sei das Kernkraftwerk Saporischja, warnt Prof. Masala mit besorgt gefalteten Händen. Seine Forderung: „Ich würde gern ein Signal sehen, dass man Putin sehr klar macht, dass er, wenn Saporischja explodiert, mit gravierende Konsequenzen zu rechnen hat.“ Rumms!

„Es ist ja noch eine andere Zündschnur gelegt“, warnt Kiesewetter zum Schluss, „nämlich die des ungeheuren Blutzolls der ethnischen Minderheiten. Es kämpfen ja kaum Russen aus St. Petersburg und Moskau. Es kämpfen Tschetschenen, Burjaten, Tataren und viele andere.“

„Das ist eine Zeitbombe“, mahnt der CDU-Mann zum Schluss, „weil ganze Dörfer ohne leistungsfähige Männer sind. Viele Krüppel, Hunderttausende Betroffene, und entsprechend Familien. Das ist nicht ein Krieg der Russen, sondern ein Krieg, wo sie die ethnischen Minderheiten für sich kämpfen lassen. Und das bedeutet noch mehr Zündstoff für die russische Gesellschaft, je länger der Krieg dauert.“

Zitat des Abends

„Wir werden erst wissen, was da wirklich passiert ist, wenn politisch die ersten Köpfe rollen“. Ina Ruck

Fazit

Erschütternde Zeitzeugenaussagen über die Verbrechen und den bevorstehenden Untergang einer korrupten Clique um einen mörderischen Diktator, der sogar jetzt noch selbst im Westen mit seinen Lügen viele Menschen verwirrt: Das war eine Talkshow der Kategorie „Götzendämmerung“.