Es hätte ein Moment des Durchschnaufens sein sollen. Ein Moment des Innehaltens in den Zeiten großer Krisen, ein Moment der gegenseitigen Selbstbestätigung, der Besinnung auf die gemeinsamen Ziele, auf die Grundlage des europäischen Gedankens. Vive la Freundschaft!
Erstmals seit 23 Jahren sollte wieder einmal ein französischer Präsident auf Staatsbesuch kommen. Ein Besuch mit ganz großen Bildern, von Bankett und Bootsfahrt bis Brandenburger Tor.
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Reine Symbolik, na klar. Doch mit großer politischer Bedeutung. Zwischen Ukraine-Politik und Atomkraft-Unverständnis hat das deutsch-französische Verhältnis einen ordentlichen Knacks bekommen. Olaf Scholz und Emmanuel Macron sind noch auf der Suche nach der Basis ihrer Beziehung. La grande amour, so viel scheint jetzt schon sicher, wird es wohl nicht mehr zwischen den beiden unterschiedlichen Männern.
Doch die Paartherapie fällt aus. Auch das Deutsch-Französische Jugendwerk, das in den vergangenen 60 Jahren rund 9,5 Millionen junge Menschen ins jeweilige Nachbarland geschickt hat, muss auf die nächste Gelegenheit warten, um dem Präsidenten ihren Zukunftscampus in Berlin zu zeigen.
Macron fliegt die innenpolitische Lage um die Ohren
Die Jugend in Frankreich hat gerade andere Sorgen. Die historischen Bilder entstehen dieser Tage nicht auf dem Pariser Platz in Berlin, sondern in den Vorstädten der großen französischen Städte: Paris, Marseille, Lyon – überall brannten in den vergangenen Tagen Autos und Gebäude, es gab Plünderungen und Angriffe auf Polizisten.
Hunderte Menschen wurden festgenommen, die französische Polizeigewerkschaft sprach am Sonntag von einem „Kampfeinsatz, weil wir uns im Krieg befinden“. Und damit war nicht die Ukraine gemeint.
Anke Myrrhe ist stellvertretende Chefredakteurin. Sie hat in Frankreich gelebt und Französisch studiert. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit den politischen Entwicklungen in unserem Nachbarland.
Die innenpolitische Lage fliegt Präsident Macron mal wieder um die Ohren, im wahrsten Sinne. Er ist weise genug, sich da nicht im Schloss Bellevue speisend oder Bötchen schippernd ablichten zu lassen. Staatsbesuch verschoben auf unbestimmte Zeit.
Wann sich die Lage in seinem Land wieder beruhigt, ist allerdings nicht absehbar. Auch wenn es in der Nacht zum Sonntag einige Anzeichen für etwas weniger Krawall gab – 45.000 Polizisten, Demonstrationsverbot und der Stopp des öffentlichen Nahverkehrs zeigten dann doch etwas Wirkung. Anders als im Jahr 2005, bei den letzten großen Ausschreitungen, hat Macron bislang keinen nationalen Notstand ausgerufen. Doch schon jetzt ist klar, dass auch diese Proteste lange nachwirken werden.
Frankreich hat sich nicht unbedingt zum Guten verändert
2005, das ist bis heute eine Jahreszahl, die französische Politiker erschaudern lässt. Damals dauerten die Krawalle in den Vororten der Großstädte drei Wochen an. Zwei Jugendliche waren damals auf der Flucht vor der Polizei gestorben. In der vergangenen Woche war es der 17-jährige Nahel M., der bei einer Verkehrskontrolle erschossen wurde. Und wieder brennen die Banlieues.
Da liegt die Frage nahe: Hat sich denn in den vergangenen 20 Jahren gar nichts verändert in Frankreich? Doch, lautet die Antwort. Allerdings nicht unbedingt zum Guten.
Seit Tagen brennen die Vorstädte „Das könnte der George-Floyd-Moment Frankreichs werden“
Große Summen wurden investiert, um der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher in den migrantisch geprägten Vorstädten entgegenzuwirken – in Bildungs- und Sportprogramme, Wohnungsbau und Verkehrsanbindung. Die Wut, so scheint es, ist trotzdem größer als je zuvor. „Wir haben keine Arbeit, wir haben nichts“, sagte ein junger Mann dieser Tage in eine Fernsehkamera. „Dafür werden wir täglich schikaniert.“
Ein Drittel der Festgenommenen sei minderjährig, sagt Macron. Die Zahlen der vergangenen Tage schwanken. Doch klar ist: Es sind sehr junge Menschen, die hier randalieren. Es hat etwas Ernüchterndes zu sehen, wie sie auch ihre eigenen Sporthallen und Jugendclubs anzünden. Die Gewalt folgt keiner Logik, sie hat etwas Selbstzerstörerisches, sie brüllt: Wir haben ohnehin keine Zukunft. Also machen wir jetzt einfach alles kaputt.
Le Pen braucht keine rechten Parolen mehr
Gefährlich ist das weit über Frankreich hinaus: Denn die französische Rechte hat in Marine Le Pen schon lange eine mehrheitsfähige Kandidatin. Und die weiß die Lage geschickt zu nutzen. Sie ließ sich angesichts der aktuellen Ausschreitungen nicht etwa zu Aussagen à la Nicolas Sarkozy hinreißen, der 2005 angekündigt hatte, da einfach mal durchzukärchern. Sie gibt die große Staatsfrau.
Le Pen braucht gar keine rechten Parolen mehr, um den Frust der Menschen einzusammeln. Die Bilder sprechen für sich. Sie profitiert seit Jahren davon, dass die französische Politik ihr elitäres Image einfach nicht ablegen kann, weil es so tief verankert ist, im Bildungssystem und in den Institutionen. Und beim nächsten Mal reicht es vielleicht für die Präsidentschaft.
Dann, so ist zu befürchten, gäbe es für die nächsten Jahre nicht mehr viel deutsch-französische Freundschaft zu feiern.