Was wird aus dem Geschäft mit Restschuld-Versicherungen?

Wenn es die Restschuld-Versicherung nicht längst gäbe – man müsste sie erfinden. Denn: Die Banken haben es nicht nur geschafft, für ihr eigenes Risiko (nämlich das Risiko eines Kreditausfalls) jemand anderen (nämlich den Kunden) die Police abschließen zu lassen (genial!). Sondern: Bei Restschuld-Versicherungen kommt es obendrein nur zu sehr wenigen Schadensfällen.

Konsequenz: Die Versicherer vereinnahmen die gezahlten Prämien fast eins zu eins als Gewinn – und können es sich daher leisten, wiederum die Banken (d.h.: vor allem die Konsumentenfinanzierer) für den Abschluss einer Police mit 50% und mehr der Versicherungssumme zu provisionieren. Kein Wunder, dass die deutsche Kreditwirtschaft laut Berechnungen von Finanz-Szene mit Restschuld-Versicherungen zuletzt mehr als 1 Mrd. Euro Gewinn pro Jahr erwirtschaftet haben dürfte! (Kleines Fallbeispiel: Zu Hochzeiten ihres Geschäfts mit co-gebrandeten Kreditkarten hat laut uns vorliegenden internen Zahlen allein die Landesbank Berlin mit Restschuld-Versicherungen bis zu 40 Mio. Euro p.a. erwirtschaftet – und damit zeitweise mehr als mit der Interchange).

Jedenfalls: Blöderweise haben Politik und Regulierung das Thema irgendwann für sich entdeckt. So trat im Juli der sogenannte Provisionsdeckel in Kraft; die Ampel-Koalition will über diesen noch hinausgehen; und letzte Woche schlug zu allem Überfluss dann auch noch die Eiopa (also die EU-Behörde für Versicherungsaufsicht) Alarm. Und jetzt??? Ist die Restschuld-Versicherung ein Auflaufmodell? Oder finden die Konsumentenfinanzierer einen Weg, das hochprofitable Geschäft gegen alle Widerstände zu verteidigen?

Unser Deep Dive:

1. Über welchen Markt reden wir?

Restschuldversicherungen (RSV) bieten die Absicherung, dass die Rückzahlung eines Kredits auch im Fall von Arbeitslosigkeit, Berufsunfähigkeit oder Tod gewährleistet ist. In aller Regel sind sie an den Abschluss eines Konsumentenkredits gekoppelt, etwa zum Kauf eines Autos oder von Möbeln. Per Ende 2021 führten die Versicherungen hierzulande 3,8 Mio. solcher RSV – rund 15%  mehr als noch 2019. Damit waren RSV die wachstumsstärkste Versicherungsvarianten überhaupt. Die versicherte Summe: rund 50,3 Mrd. Euro.

Kurios: Für 2021 meldet der Versicherungsverband GDV nicht länger die Zahl der Restschuldversicherungen. Der Kreis der Anbieter sei über die Jahre zu klein geworden und man müsse „aus kartellrechtlichen Gründen die Restschuldversicherung zusammen mit anderen Produkten erfassen“.

Die Besonderheit: Typischerweise sind die Laufzeiten dieser Versicherungen mit ein bis maximal fünf Jahren eher kurz, da sie in der Regel parallel zur Laufzeit des zugrunde liegenden Konsumentenkredits abgeschlossen werden. Damit handelt es sich um ein Geschäft, in dem sehr rasch neue Policen vertrieben und neue Provisionen generiert werden: Allein 2021 wurden rund 920.000 neue RSV geschlossen (diese Zahlen zum Neugeschäft werden genannt), davon knapp 800.000 gegen Zahlung eines Einmalbetrags, das heißt: das Geld fließt sofort komplett vom Versicherten in die Taschen der Versicherer.

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2. Warum ist der Markt so lukrativ?

Weil es in diesem Segment kaum zu Schadensfällen kommt. Was bedeutet: Die Versicherer vereinnahmen die gezahlten Prämien fast brutto wie netto als Gewinn. Was das konkret heißt, zeigt eine Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion vom Februar 2021, die in Bezug auf eine Teilgruppe der RSV konkreter wurde. Demnach bestanden Ende 2019 bei den von der Bafin beaufsichtigten Lebensversicherungsunternehmen 986.000 „Restschuldversicherungen mit Überschussbeteiligung in Form einer Gruppenversicherung“. Diese beliefen sich auf eine Versicherungssumme von 11,5 Mrd. Euro. Zugleich trat 2019 in dieser Teilgruppe nur bei 2.500 Verträgen mit einer Versicherungssumme von 32 Mio. Euro ein Schadensfall auf.

Somit kam es lediglich bei 0,25% aller Policen und 0,28% der gesamten Versicherungssumme zu einem Schadensfall. Die Versicherungsaufsicht Eiopa bezifferte in ihrer vergangene Woche veröffentlichten Warnung  die Versicherungsleistungen europaweit auf im Durchschnitt weniger als 30% der Bruttobeiträge. Der Grund: Menschen überschätzen notorisch die versicherten Risiken Arbeitslosigkeit, Berufsunfähigkeit oder Tod – und die Versicherungen sind offenbar sehr gut darin, die passenden Kundinnen und Kunden zu finden.

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3. Was haben Banken damit zu tun?

Banken sind der entscheidende Akteur am „Point of Sale“ einer RSV. Im Zuge einer Marktbefragung fand die Bafin 2020 heraus, dass…

  • 25 von 30 Versicherern, die in der RSV über Gruppentarife engagiert sind, den „Vertriebsweg Bank“ nutzen
  • und die Quote der bei den Kreditinstituten vertriebenen Darlehen mit RSV im Jahr 2018 etwa 30-40% betrug, sprich mehr als jeder dritte Konsumentenkredit wurde im Paket mit einer RSV vertrieben.

Der Anreiz dafür waren jahrelang paradiesische Verhältnisse in der Provisionierung. Bei der ersten großen Bafin-Marktuntersuchung 2017 erklärte mehr als die Hälfte der Versicherer, man vergüte für den Abschluss einer RSV mindestens 50% der Versicherungssumme an die entsprechenden Banken. An diesen Provisionssätzen habe sich nichts geändert, hieß es in der 2020er-Marktuntersuchung der Bafin:

„Wie bereits in der Marktuntersuchung 2017 festgestellt, waren die von den Versicherungsunternehmen an die Kreditinstitute geleisteten Provisionen teilweise außerordentlich hoch und bilden deshalb einen lukrativen Anreiz für die Kreditinstitute, möglichst viele Restschuldversicherungen mit einer möglichst hohen Prämie zu verkaufen.“

Näherungsweise ist davon auszugehen, dass es in diesem Segment für die Banken um einen jährlichen „Profit Pool“ im zwar sehr niedrigen, aber eben tatsächlich einstelligen Milliardenbereich (!) geht. Zwar grätschte hier der Provisionsdeckel hinein – doch längst gibt es (siehe Punkt 6.) Umgehungen.

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4. Warum sind (waren) die Banken so scharf auf das Geschäft?

Weil sich mit dem Abschluss einer RSV auch und gerade in Niedrigzinszeiten durchaus mehr verdienen lässt (bzw. ließ) als mit der Kreditvergabe selbst – und das risikolos.

Ein simples Beispiel: Ein Online-Konsumentenkredit bei einer Direktbank über 10.000 Euro kostet aktuell bei mittlerer Bonität über vier Jahre 5,5% effektive Jahreszinsen. Unterstellt, die Bank reicht ausschließlich unverzinste Einlagen aus und hat keinerlei Zinskosten, so verdient sie damit über die Zinsspanne vor eigenen Risikokosten und sonstigen Aufwendungen 1.136 Euro – denn der Kreditnehmer zahlt 48 Raten zu je 232 Euro zurück.

Die lange üblichen Prämien für eine RSV belaufen sich allerdings auf 10 bis 20% der Kreditsumme, wovon die Bank 50% und mehr als Provision erhielt. Mithin verdiente sie „upfront“ und ohne Kreditrisiko an der Versicherung der Kreditsumme 500-1.000 Euro Provision. Und es war ein offenes Geheimnis der Branche, dass häufig nur der einen Kredit erhielt, der eine RSV abschloss.

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5. Welche Banken sind mit dabei?

Vielleicht ist es einfacher zu sagen, wer nicht dabei ist. So verkaufen etwa die ING Diba und die Apobank keine RSV. Mehr oder weniger allen anderen Retailanken tun es – und tendenziell umso mehr, je stärker die Häuser in der Konsumentenfinanzierung aktiv sind. Postbank und Commerzbank bieten Restschuldversicherungen ebenso an wie die Genossenschaftsbanken über „Easycredit“, die DKB ist ebenso dabei wie die Norisbank – und so weiter.

Eine besonders starke Stellung im Konsumentenkreditgeschäft und mithin wohl auch im RSV-Geschäft (die Geschäftsberichte schweigen sich darüber aus) haben zum Beispiel Consors Finanz, die Targobank, die Bank von Essen, quasi alle Autobanken sowie indirekt die auf revolvierende Kreditkarten spezialisierten Häuser wie die Advanzia, Barclays (ehem. Barclaycard), Hanseatic und – jedenfalls noch – die schon erwähnte LBB.

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6. Aber hat die Politik nicht gerade erst reingegrätscht?

Genau! Nach langem Ringen – und unter wüsten Protest der Finanzbranche – verabschiedete der Bundestag im Frühjahr 2021 einen Provisionsdeckel. Er gilt seit Juli und beträgt 2,5% der Versicherungssumme, mithin also ein Bruchteil dessen, was bislang üblich war (siehe weiter oben Punkt 4)

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7. Also ist das lukrative Geschäft schon flöten gegangen … ?

Mitnichten. Zugegeben: Wir stützen uns im Folgenden auf die Aussagen nur einer Quelle aus dem Inneren einer im Konsumentenkredit-Geschäft aktiven Bank. Wir halten die genannten Zahlen und Ausführungen allerdings für plausibel und valide.

Konkret kalkulierte die Branche demzufolge damit, dass durch den Provisionsdeckel Erträge von 1,0 bis 1,5 Mrd. Euro wegfallen dürften (Erträge, die früher fast vollständig zu Gewinnen wurden).

  • Allerdings habe man in der Branche erleichtert zur Kenntnis genommen, dass der neue Provisionsdeckel die Kreditkartenbranche teilweise ausgespart habe. So lasse sich – Möglichkeit 1 – immer noch erkleckliches Geld verdienen. Ein Beispiel: Jemand kauft neue Möbel und stottert den Betrag in Raten ab, mithilfe seiner Kreditkarte. Weil sein Konto leer ist, muss er Überziehungszinsen zahlen – sowie die Prämien für eine „automatische“ RSV. Diese können horrend ausfallen und monatlich teils 0,6% bis 0,9% des offenen Saldos ausmachen. Geld, das fast eins zu eins als Provision verbucht werden kann. Denn die Fälle, in denen sich das Risiko für den Versicherer tatsächlich materialisiert, sind extrem selten (siehe oben). Da sich aber kaum genau definieren lässt, was noch Überziehungszins und was schon RSV-Prämie ist, sind diese – und andere – Fälle vom gesetzlichen Deckel ausgenommen. [Kuriosum am Rande: Laut Bafin bekamen 39% (!!) der RSV-Kunden unaufgefordert eine Kreditkarte überlassen. Offenbar frei nach dem Motto: Du hast schon Schulden mit RSV? Dann hier, nimm‘, kauf‘ weiter auf Kredit].
  • Möglichkeit 2: Obendrein schaffen die beteiligten Versicherer und Banken angeblich neue Gewinnpools, die nicht unter den Provisionsdeckel fallen, zum Beispiel indem sie bei klassischen Konsumenten-RSV eben keine Provisionen zahlen, sondern untereinander eine „Gewinnbeteiligung“ vereinbaren – definiert als technisches Ergebnis des versicherten Kredit- und RSV-Portfolios. Und dieses Ergebnis fällt, siehe oben, aufgrund der geringen Zahl echter Versicherungsfälle meist üppig aus.
  • Möglichkeit 3: Noch einfacher haben es Anbieter, die selbst einen Rückversicherer im Konzern haben. Dort kann schon helfen, wenn dieser Versicherer eine völlig überhöhte Risikoprämie berechnet. Entsprechend schmal kann man die ausweispflichtige Provision gestalten. Die dicken Gewinne fallen dann nicht über die (optisch niedrigen) Provisionen für die RSV an, sondern in der Rückversicherung selbst – und können über gesonderte Verträge (Fachterminus: „technische Erträge“) ausgekehrt werden.

Kurzum: Die Schattenmodelle wachsen. Womöglich ist dies aber auch in Berlin bekannt – und einer der Gründe dafür, dass die Ampel im Herbst 2021 eigentlich vorsah, bildlich gesprochen die Axt anzusetzen und den Abschluss einer RSV vom Abschluss des eigentlichen Kreditvertrags zu entkoppeln. Und zwar um eine Woche. Glück für die Industrie, dass es bislang beim Plan geblieben ist.

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8. Welche Folgen hätte die Entkopplung?

Würde Berlin Ernst machen, dürfte der Markt für RSV schlicht zusammenbrechen und das Geschäftsmodell so nicht mehr funktionieren. Denn die Restschuldversicherung lebt von der engen Kopplung an den Kreditvertrag am Point of Sale (zuletzt in fast 50% der Fälle online). Dass sich viele Kunde nach einer Woche noch einmal dafür entscheiden , die Kreditschuld gesondert zu versichern, wäre dagegen eher unwahrscheinlich.

Das zeigt auch die Erfahrung aus Großbritannien, wo Berlin die Idee der Trennung über eine Woche offenbar entlehnt hat: Dort hat die Finanzaufsicht vor genau zehn Jahren – 2011 – exakt diese Entkoppelung zwischen Kreditvertrag und RSV verpflichtend gemacht. Die Folge? Der Markt brach zusammen, die RS-Versicherungen führen heute nur noch ein Nischendasein.

Mehr noch: Weil die Finanzaufsicht zudem bereits abgeschlossene Verträge nachträglich aufrollen ließ – einschließlich jener, die unter Druck vertrieben oder an Arbeitslose und Rentner vermittelt wurden –, gab es eine der größten Entschädigungsaktionen in der Geschichte der Verbraucherfinanzen.  Zwischen 2011 und 2020 zahlten britische Finanzdienstleister 38,3 Mrd. Pfund (also 45 Mrd. Euro!!!) an Konsumenten zurück, die ihre Restschuldversicherungen angefochten hatten.